Verkehrserziehung: Wie macht man Kinder fit für den Straßenverkehr?
Kinder sind im Straßenverkehr besonders gefährdet. Sie erkennen Gefahren häufig erst spät oder schätzen Situationen falsch ein. Verkehrserziehung ist deshalb von lebenswichtiger Bedeutung: Dadurch lernen Kinder sicheres Verhalten und werden darauf vorbereitet, eigenständig am Straßenverkehr teilzunehmen.
Verkehrserziehung ist Teil des Bildungsauftrags in Kitas und Schulen. Daneben sind vor allem Eltern in Sachen Verkehrserziehung gefragt. Im Interview erklärt uns Andreas Bergmeier vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat, was Eltern tun können, um ihre Sprösslinge sicher im Straßenverkehr zu machen.
Warum sind Kinder im Straßenverkehr besonders gefährdet?
Kinder kommen entwicklungsbedingt noch nicht mit dem Straßenverkehr zurecht. Sie haben zwar kein eingeschränkteres Blickfeld als Erwachsene, darauf deuten neue wissenschaftliche Erkenntnisse hin. Es kommt aber darauf an, wie das Gesehene verarbeitet wird. Kinder sehen zwar herannahende Autos, schätzen Entfernungen und Geschwindigkeiten aber nicht richtig ein. Auch andere Dinge, die Kinder vielleicht in der Peripherie kurz wahrnehmen, können sie nicht richtig einordnen. Wir Erwachsenen haben darin Erfahrung. Ein kurzer Blick genügt und eine erwachsene Person weiß: „Hier könnte sich eine brenzlige Situation ergeben.“ Das können die Kleinen nicht, dazu fehlt ihnen die Erfahrung. Und es kommt noch etwas anderes hinzu: Kinder haben einen anderen Fokus und richten ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf Dinge, die interessant für sie sind. Sie denken nicht an die Gefahren, sondern wollen auf die andere Straßenseite. So schnell wie möglich, weil dort vielleicht ein Freund oder eine Freundin wartet.
Was kann man tun, damit sich die Kinder in bestimmten Situationen trotzdem richtig verhalten?
Wenn Eltern mit ihren Kindern unterwegs sind, müssen sie ihnen immer wieder vermitteln: Die Gefahren sind in der konkreten Situation da oder die Gefahren könnten entstehen. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass der Nachwuchs solchen Hinweisen nicht konsequent folgt oder sie ganz einfach vergisst. Deshalb ist es wichtig, dass sich bestimmte Automatismen einprägen. Wenn ich zum Beispiel an den Straßenrand komme, heißt das immer: stehen bleiben. Auch wenn da weit und breit kein Auto zu sehen ist. Bordsteinkante heißt immer: anhalten. Das müssen Kinder verinnerlichen. So verbessert sich die Chance, dass ein Kind auch dann die Regeln befolgt, wenn es einmal abgelenkt ist. Eine Garantie für ein konsequent richtiges Verhalten ist das aber immer noch nicht.
Gibt es allgemeine Grundsätze zur Verkehrserziehung, wie Eltern ihren Kindern richtige Verhaltensweisen im Straßenverkehr beibringen?
Das Wichtigste ist, sicheres Verhalten im Straßenverkehr immer wieder zum Thema zu machen und einzuüben. Damit Kinder Verkehrserziehung nicht als langweilig oder lästig empfinden, sollte man keine Übungssituationen kreieren, sondern alltägliche Wege zum Üben nutzen. Dabei den Nachwuchs auf bestimmte Situationen oder Fahrzeuge aufmerksam machen und erklären, warum man was tut. Zum Beispiel vor der Fahrbahnüberquerung: „Hier stehen gerade große LKWs. Da können wir nicht richtig sehen, ob Autos kommen. Wir suchen uns besser eine Stelle, wo wir freie Sicht haben.“ Später kann man auch die Rollen wechseln und sagen: „Jetzt bist du mal der Boss und sagst, wann wir stehen bleiben müssen und wann wir weiter gehen können.“ Wenn sich das Kind richtig verhält, sollte man es loben, aber auch deutlich machen, wenn es etwas falsch gemacht hat. So bekommt das Kind ein Verantwortungsgefühl und Eltern können leicht überprüfen, wie fit es eigentlich ist.
Ganz wichtig ist es, als Eltern das richtige Verhalten vorzuleben – und zwar ohne Ausnahme. Man sollte also auf keinen Fall sagen: „Eigentlich bleiben wir am Bordstein immer stehen. Aber es regnet gerade und weit und breit ist kein Auto zu sehen, also laufen wir jetzt schnell über die Straße.“
Ab welchem Alter beginnt Verkehrserziehung und was sind die ersten und wichtigsten Regeln, die Kinder lernen sollten?
So früh wie möglich, sobald die Kinder zu Fuß gehen können. Eine wichtige Regel, die man von Beginn an vermitteln sollte: Dem Straßenverkehr immer ohne Hektik begegnen. Auch wenn es oft schwerfällt: Hier müssen Eltern ein Vorbild sein und sich die Zeit nehmen. Auch wenn man das Kind „Boss“ spielen lässt, muss man ihm die Zeit geben, die es braucht. Wenn der Nachwuchs meint, man könne jetzt noch nicht über den Zebrastreifen gehen, dann nicht ungeduldig werden und unter Zeitdruck setzen. Das gilt selbst für Schulkinder: Diese nicht auf den letzten Drücker zur Schule losschicken, sondern mit ausreichend Zeit. Zu sagen: „Lauf schnell los, dass schaffst du noch“, ist keine gute Voraussetzung für einen sicheren Schulweg.
Eine der wichtigsten Verhaltensregeln, die ich schon angesprochen habe: Am Bordstein, an Hofeinfahren und überall dort, wo Gefahren drohen: Immer stehen bleiben und in Ruhe einen Überblick verschaffen. Auch wenn die Zeit drängt und wir als Eltern die Situation als ungefährlich erkannt haben. Selbst Zweijährigen kann man schon erklären, warum man stehen bleibt und sich genau umschaut. Spätestens die Dreijährigen sollte man selbst in beide Richtungen schauen und dabei ihr eigenes Verhalten kommentieren lassen: „Da kommt ein Auto. Dort noch eins. Jetzt können wir gehen.“
Was müssen Kinder mit zunehmendem Alter im Straßenverkehr lernen und beherrschen?
Am Bordstein immer stehen zu bleiben ist die erste und wichtigste Regel. Mit zunehmendem Alter kann man den Schwierigkeitsgrad natürlich erhöhen. Beispiel Zebrastreifen. Das hört sich leicht an, aber sicher ist der Fußgängerüberweg nur dann, wenn sich alle Verkehrsbeteiligten daran halten. Das müssen Kinder wissen. Sie müssen lernen, Gefahrensituationen einzuschätzen. Wird der Motorradfahrer schnell noch ein herannahendes Auto überholen und vor dem Zebrastreifen nicht mehr zum Bremsen kommen? Solche und ähnliche Überlegungen müssen Kinder anstellen. Das Überqueren von Kreuzungen mit Ampeln ist eine weitere Steigerungsstufe. Hier müssen Kinder unter anderem registrieren können, ob sie von einem abbiegenden Fahrzeug gefährdet werden.
Mit zunehmendem Alter kann man dem Kind auch erste Wege übertragen und aus der Distanz beobachten und kontrollieren: „Macht es das, was wir gemeinsam geübt haben?“ Ein weiteres Thema ist Im-Freien-Spielen. Hier muss man klare Spielgrenzen im eigenen Wohnumfeld abstecken: „Bis hierhin darfst du, das ist ein sicherer Spielbereich. Weiter nicht, nur in Begleitung von Erwachsenen.“ Diese Grenzen, die man dem Kind zumuten kann, lassen sich Schritt für Schritt erweitern.
Wann sind Kinder in der Regel so weit, dass man sie allein zur Bäckerei um die Ecke schicken kann?
Das lässt sich pauschal nicht sagen und hängt stark vom Wesen des Kindes ab. Es gibt sehr vorsichtige Kinder, die Hinweise und Regeln ihrer Eltern eher beachten. Und es gibt Kinder mit viel Bewegungsdrang und voller Energie, denen ein ruhiges, umsichtiges Verhalten schwerer fällt. Und dann hängt es natürlich von der Umgebung ab. In einer ruhigen Wohnumgebung kann man ein fünfjähriges Kind schon mal zur Bäckerei um die Ecke gehen lassen. Wenn dafür aber ein Zebrastreifen auf einer stark befahrenen Straße zu überqueren ist, würde ich selbst ein Grundschulkind nicht allein losschicken. Grundsätzlich kann man sagen: Im Kindergartenalter sollten Kinder in aller Regel nicht allein zu Fuß gehen. Selbst wenn man in einer ruhigen Wohngegend wohnt, kann es immer sein, dass sich Verkehrsteilnehmende problematisch verhalten. Auch kann unerwartet eine Baustelle auftauchen oder der Gehweg ist blockiert.
Können Grundschulkinder eigenständig ihren Schulweg bewältigen und wie können Eltern ihre Kinder darauf vorbereiten?
Für Eltern bedeutet das, den Schulweg vorher klar festzulegen und mit dem Kind einzuüben. Ab dem dritten Schuljahr können Kinder relativ bedenkenlos eigenständig zur Schule gehen oder andere kleine Wege erledigen. Dabei aber immer die Verkehrsumgebung im Hinterkopf haben. Wenn man an einer vierspurigen, gefährlichen Straße wohnt, kann das auch ein Grundschulkind überfordern. Das gilt erst recht, wenn es mit dem Fahrrad unterwegs ist.
Apropos Fahrrad: Was gibt es dabei zu beachten?
Wenn man Kinder mit ihrem Rad durch die Landschaft flitzen sieht, neigt man als Eltern dazu, die Kinder zu überschätzen. Im Straßenverkehr müssen Kinder aber nicht nur fahren können, sondern in bestimmten Situationen mehrere Dinge auf einmal erfassen und schnell reagieren. Sie müssen also mehrere Aufgaben auf einmal bewältigen. Wenn sie abbiegen wollen, zum Beispiel abbremsen, die Hand raushalten, sich umschauen und dabei die Spur halten. Sagen Sie einmal einem achtjährigen Kind irgendwo in einem Park: „Fahr langsam, halt die Hand raus und schau dich um.“ In der Regel ist es so, dass Kinder, die darin keine Übung haben, den Lenker verreißen. Sie lenken in die Richtung, in die sie schauen. Für Kinder unter acht Jahren ist die Straße daher tabu, sie dürfen laut StVO nur auf dem Gehweg fahren.
Zwischen acht und zehn Jahren können sie wählen, ob sie auf dem Gehweg oder Radweg fahren. Ab dem zehnten Geburtstag muss der Nachwuchs den Radweg oder die Straße nutzen. In diesem Alter machen sie meist auch eine Radfahrausbildung an der Grundschule. Ein bestandener Test heißt aber nicht, dass die Kinder ohne Wenn und Aber allein mit dem Rad losfahren können. Das hängt immer davon ab, ob das Kind eher vernünftig ist oder ob es sich leicht ablenken lässt. Außerdem muss man berücksichtigen, wie es das Fahrrad beherrscht und ob auf der Fahrstrecke gefährliche Situationen zu meistern sind. Das müssen Eltern also immer im Einzelfall entscheiden.
Über unseren Interviewpartner und Experten in Sachen Verkehrserziehung
Andreas Bergmeier leitet das Referat „Kinder und Jugendliche“ im Deutschen Verkehrssicherheitsrat e. V. (DVR). Unter seiner Federführung hat der DVR unter anderem das Programm „Kind und Verkehr“ entwickelt, das Eltern, Erzieherinnen und Erziehern Tipps zur Verkehrserziehung gibt und dabei hilft, Kinder auf den Straßenverkehr vorzubereiten.