Wildnispädagogik: Zurück zur Natur und zu uns selbst
Wer sich darauf einlässt, Tage oder gar Wochen in freier Natur zu verbringen, kommt Flora und Fauna wieder näher. Und ein Stück weit auch sich selbst. Wildnispädagoginnen und -pädagogen begleiten Menschen bei dieser Erfahrung. Einer davon ist Rüdiger Westhauser. Im Interview spricht er darüber, was Wildnispädagogik ausmacht, warum die Natur so lehrreich ist und welch prägende Lektion er aus der Wildnis mitgenommen hat.
Experte Rüdiger Westhauser über den Ansatz der Wildnispädadogik und seine vielen Vorteile
Wir sprechen von „Wildnispädagogik“, obwohl es echte Wildnis kaum noch gibt. Wo hat die Wildnispädagogik denn ihre Wurzeln?
Das ist keine einfache Frage, weil es verschiedene Ursprünge gibt. Da ist zum einen die Survival-Bewegung, die mit den Survival-Sendungen im Fernsehen ja gerade viel Aufmerksamkeit erhält. Elemente der Wildnispädagogik stammen auch aus dem Überlebenstraining im Militär und aus der Erlebnispädagogik. Und schließlich spielen die Naturvölker eine große Rolle. Die Wildnispädagogik knüpft zum Beispiel stark an das Wissen und die Methoden indigener Völker Nordamerikas an.
Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe umweltpädagogischer Ansätze. Was ist das Besondere an der Wildnispädagogik?
Wildnispädagogik findet noch mehr als andere Ansätze in und mit der Natur statt. So, wie es das Leben indigener Völker bestimmt, geht es bei der Wildnispädagogik im Grunde darum, sich mit der Natur zu verbinden, von ihr zu lernen und an ihr zu wachsen. Sie betrachtet die Natur als ultimative Lehrmeisterin, weil sie uns die Konsequenzen unseres Handels widerspiegelt. Richte ich im Wald mein Schlaflager ein und mache das nicht richtig, dann kann ich es auf niemanden schieben, wenn ich nass werde oder friere. Nur ich selbst bin dafür verantwortlich. Die Natur hält mir lediglich einen Spiegel meines Handels vor. Und das ist das Besondere: dieses selbstverantwortliche, selbstwirksame Lernen und Handeln. Und dafür braucht es im Prinzip keine Trainerin und keinen Trainer. Das erfährt jede und jeder für sich selbst. Wir verstehen uns eher als Mentoren, die Menschen bei ihren Erfahrungen begleiten.
Was kann oder soll die Wildnispädagogik bewirken?
Selbstwirksamkeit und Selbstverantwortung zu erfahren an sich ist ein wichtiges Ziel. Außerdem lehrt sie uns ein einfaches Leben, das sich auf wesentliche Dinge reduziert und einschließt, mit uns allein sein zu können. Ein Vertreter dieser Ansicht ist der Psychologe und Pädagoge Siegbert A. Warwitz. Er hat immer wieder bemängelt, dass in der Gesellschaft eine Unfähigkeit zur Stille und zum Alleinsein da ist, und das als „Krankheit unserer Zeit“ bezeichnet. In der Natur kann diese verschüttete Fähigkeit des „Bei-sich-Seins“, wie er es nennt, wieder erlernt werden. Und wie schon erwähnt, ist ein wichtiges Ziel der Wildnispädagogik, sich wieder in Einklang mit der Natur zu begeben und sich als Teil von ihr zu verstehen, so wie es für Naturvölker und unsere Vorfahren selbstverständlich war. Heute sagt man oft: „Ich mache einen Ausflug in die Natur.“ Daran merkt man schon, dass Natur und Mensch eher entkoppelt sind. Wildnispädagogik versucht, diese fehlende Verbindung wiederherzustellen.
Welche Arten von wildnispädagogischen Angeboten gibt es?
Es gibt Angebote zur Wildnispädagogik, die allen offenstehen. Zum Beispiel Kind-Vater-Wochenenden, Paarkurse oder Wildniscamps für Kinder und Jugendliche. Speziell für Erwachsene gibt es auch sogenannte Vision Crests, wo man an einem Thema über mehrere Wochen arbeitet. Wenn man zum Beispiel vor einer entscheidenden Lebensfrage steht und eine Antwort darauf finden will, dann kann man in der Wildnis auf Visionssuche gehen. Wildnispädagogik wird aber auch als Maßnahme zur intensivpädagogischen Einzelbetreuung eingesetzt, die zum Beispiel vom Jugendamt für junge Menschen angeordnet wird. Und dann gibt es noch psychologisch-therapeutische Angebote, wo man sich mit einem konkreten Thema in der Natur oder in der Wildnis auseinandersetzt.
Natur kann helfen, ein bestimmtes Problem zu lösen? Wie das?
Ein wichtiger Punkt, warum Natur dabei helfen kann, ist die völlige Abwesenheit von Ablenkung. Im Alltag ist man ständig konfrontiert mit Medien, Terminen und Verpflichtungen und ständig in Kontakt mit anderen Menschen. So verlieren wir leicht den Bezug zu uns selbst und damit zu der Person, die unsere Fragen beantworten kann. In der Natur sind wir auf uns zurückgeworfen und bekommen aufgezeigt, was in uns ist. Ein pädagogisch angeleiteter Aufenthalt in der Natur bietet quasi die Gelegenheit, sich auch mit der inneren Natur zu verbinden.
Sie arbeiten an der CVJM-Hochschule in Kassel, wo Sie auch Kurse und Trainings zur Wildnispädagogik anbieten. Was sind die grundlegenden Inhalte, die Sie dort vermitteln?
Primär geht es bei der Wildnispädagogik immer darum, Wissen und Fertigkeiten zu vermitteln, die über Jahrtausende hinweg unser Überleben gesichert haben. Feuer machen ohne Feuerzeug und industriellen Zunder ist zum Beispiel eine zentrale Sache, die uralte Instinkte in uns weckt. An den Emotionen, wenn jemand es geschafft hat, ein Feuer zu entzünden, merkt man das schön.
Auch Pflanzenkunde ist ein wichtiges Thema, also Pflanzen zu erkennen und zu wissen, welche davon essbar sind oder sich anders nutzen lassen. Selbst für Teilnehmende, die öfter wandern gehen, ist es ein Aha-Erlebnis, zu merken, dass sie eigentlich gar nicht viel von der Pflanzenwelt wissen. Es gibt so viele Ressourcen um uns herum, die wir nicht wahrnehmen. Meistens gehören auch die Orientierung im Gelände, das Fährtenlesen und das Naturhandwerk zu den Inhalten. Man lernt zum Beispiel ein Werkzeug zu schnitzen oder sich einen einfachen Unterstand aus Naturmaterial zu bauen. Das alles schafft einen sehr direkten Bezug zur Natur.
Geht es bei der Wildnispädagogik nicht auch viel um Sinne und Wahrnehmung?
Ja, das ist richtig. Aber die Sinnes- und Wahrnehmungsschulung läuft meist beiläufig. Wenn ich Spuren lese oder versuche, Vogelstimmen zu erkennen, dann sind automatisch meine Sinne gefragt. Es gibt aber auch Methoden der Wildnispädagogik, die speziell darauf eingehen. Dazu gehört zum Beispiel die Übung „Sitzplatz“. Man setzt sich an einen Ort in der Natur und nimmt einfach nur wahr, was um einen herum geschieht. In eine ähnliche Richtung geht das Mentaltraining, das wir in Verbindung mit Klettern anbieten. Hier wird gleichzeitig auch gegenseitiges Vertrauen und Konzentration gefördert.
Haben Sie während Ihrer Ausbildungen im Bereich Wildnispädagogik besonders prägende Erfahrungen gemacht?
Bei meiner ersten Ausbildung zum Outdoor-Guide und Wildnisführer war ich ungefähr 20 Jahre alt. Wir waren damals in Schweden. Eines Tages, als wir mit Kajaks unterwegs waren, hieß es plötzlich: „Jeder sucht sich eine Insel und übernachtet dort.“
Ich habe also eine Insel angesteuert und dort schnell gemerkt, dass ich viele Sachen vergessen hatte, unter anderem Schnüre, um meine Plane zu spannen. Also habe ich improvisiert und mir aus Schnürsenkeln und Hosengummi behelfsmäßig etwas gebaut. Das hat meine Fähigkeit herausgefordert, mit Problemen fertig zu werden. Und es hat noch etwas anderes bewirkt. Denn am nächsten Tag habe ich entschieden: Meine Vergesslichkeit, diesen Teil von mir, lasse ich jetzt auf dieser Insel. Es passiert zwar immer noch mal, dass ich was vergesse. Aber ein Stück weit ist dieser Teil von mir auf der Insel geblieben. Das war ein prägender Moment, die Konsequenzen meiner Vergesslichkeit zu spüren und zu sagen: Das will ich in Zukunft anders machen.
Und welches Feedback bekommen Sie von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Ihrer Kurse?
Bei allen wirkt es auf bestimmte Art und Weise und die Menschen kommen erfüllt von solchen Angeboten zurück. Für viele ist es schon eine ganze neue Erfahrung, die Komfortzone zu verlassen und in die Lernzone reinzugehen. Viele berichten, dass sie auf scheinbar unverzichtbare Dinge im Alltag nun gut verzichten können und dabei nicht unglücklich, sondern sogar glücklicher sind. Sich also ein Stück weit auf ein einfacheres Leben besinnen. Und auch wenn wir keine mehrwöchigen Camps anbieten: Meist merken unsere Teilnehmenden schon nach wenigen Tagen, wie die Gedanken fließen, sich neu sortieren und klarer werden.
Noch eine Rückmeldung, die ich immer wieder höre: „Ich will mehr in die Natur gehen.“ Das wäre auch ein Wunsch von mir, dass mehr Menschen diese Möglichkeit nutzen und Naturerfahrungen machen. Denn der Naturschutzgedanke kann nur dann richtig entstehen, wenn man erfährt, wie lehrreich die Natur ist. Es reicht nicht, nur rational zu wissen, dass man Teil von ihr ist, sondern man muss das auch erleben.
Über unseren Interviewpartner
Rüdiger Westhauser ist Wildnis- und Erlebnispädagoge, Outdoor-Guide und Team-Coach. Er arbeitet als Weiterbildungsleiter und Dozent für Umwelt- und Erlebnispädagogik an der CVJM-Hochschule in Kassel. Dort betreut er die Weiterbildung „Wildnis- und Erlebnispädagogik“ und führt Trainings und Kurse im Bereich der Wildnispädagogik durch.